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Ralf Wetzel

Krümel im Schuh. Ein sehr persönlicher Blick auf Chemnitz

Mein Blick schweift vom Bier vor mir auf den in der Ecke hängenden Bildschirm. Umrahmt vom neutralen Blau des Senders beschwert sich eine Spätvierzigerin in untrüglich lokalem Dialekt, ein Jugend-Konzert gegen Fremdenhass mit 65.000 Teilnehmern sei deutlich zu laut gewesen. Hastig, immer wieder trocken schluckend und wiederholt den Augenkontakt mit dem Journalisten brechend versucht sie zu erklären, dass es Chemnitz nur nochmals in ein schlechtes Licht rücke. Dass sie das nicht wolle. Man sei hier in der Mitte.

Es läuft Tagesschau, prime time, mit Chemnitz im Fokus, und es ist September 2018. Im klebrigen Biernebel des Turmbrauhauses am Chemnitzer Neumarkt nicken sich am Nebentisch ein ausgebeultes Camp-David-Hemd und ein sorgfältig gestutzter Oberlippenbart mit roten Pausbacken und runder Halbglatze bestärkend zu. Beide schütteln ihre Köpfe über die Rechten auf der Strasse und meinen, dass es so aber auch nicht habe weitergehen können. Ich löffle hastig die letzten Makkaroni ‘nach Mutters Art’, zahle und gehe. Mein Magen rebelliert. Zwei Tage später, ich bin zurück in Brüssel, meiner hassgeliebten anderen Heimat und ein Freund ruft an, aus dem Erzgebirge, nach Jahren des Schweigens. Wir sprechen mit Unruhe in der Stimme, ratlos, wenngleich mit dem dumpfen Gefühl, dass dies alles so überraschend nicht kam, nur die Wucht verblüfft.

Ich komme aus dieser Stadt, wurde in ihr geboren als sie noch anders hiess. Ich gehörte einst zur verräterischen „Bourgeoisie“, zum „Klassenfeind“, mit einem Vater, der ein eigenes Unternehmen über 40 Jahre hinwegretten konnte, um es, vierundsechszigjährig, bei der Ankunft einer ersehnten Marktwirtschaft zum Schrottwert und mit drei Flaschen Wodka an zwei Türken zu verkaufen, als die Märkte ihr ersehntes Versprechen tatsächlich wahr machten. Die Mutter musste als protestantische Katechetin zusehen wie eine enge Freundin für sieben Jahre ins Zuchthaus ging, weil sie mit ihren Freunden vor einem Berliner Gefängnis drei Junge-Gemeinde-Lieder für politisch Gefangene gesungen hatte. Und sie musste zusehen, wie die Rote Armee nach Kriegsende in ihrem mecklenburgischen Heimatdorf die amerikanischen Besatzer ablöste, und mit den Amerikanern auch ein Teil der eigenen Selbstbehauptung und Selbstsorge verschwand. Ich bin aufgewachsen in einem nebligen Dunst aus Angst, Leistungs- und Anpassungsdruck gepaart mit einem ordentlichen Schuss Trotz, was mir regelmässig langanhaltenden Kopfschmerz bescherte. „Gib dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist. Lass niemanden auch nur ahnen, was innerhalb der Familie gesprochen wird. Sei besser als alle anderen, damit Dir niemand Deine Herkunft zur Last legen kann.“ Das waren die Familienmantras.

Ich stand nach der Wende in den Schlangen an den Schaltern des Hofer Einwohnermeldeamtes, um mir die 15 D-Mark zweites Begrüssungsgeld abzuholen, gemeinsam mit gefühlt rund 17 Millionen anderen Wirtschaftsflüchtlichen. Mit offenem Mund hörte ich zur gleichen Zeit den Intellektuellen zu, die von weit her in die Stadt und an die Universität kamen, wie sie über die Aufbruchstimmung, den weiten blauen Himmel und die unorthodoxe Improvisation der Stadt schwärmten. Alles sei möglich? Ich lernte damals verblüfft, dass man das Leben auch in Episoden leben könne, nicht notwendigerweise als Teil einer einzigen langen Narration, und nicht notwendigerweise am gleichen Ort. Ich erfuhr, dass man die Welt auch nach ganz anderen Masstäben vermessen und erreichen könne als nach jenen, die ich ich nur als Beschränkungen kannte. Mir war, als erwachte ich aus einer unerkannten, dunstigen Depression, die sich in einem Rückzug ins Private, in passiver Agressivität und resignativer Muskelparalyse niedergeschlagen hatte. Flüssigbeton, der über zwei Jahrzehnte um meine Füsse, um mein Herz und um meine Stirn herum ausgehärtet war, wurde plötzlich porös und gab nach. Folglich vermass ich meine Welt denn auch neu, ging aus, sie neu zu erreichen. Ich begann, ein Leben in Episoden zu leben, die sich teilweise zu regelrechten Parallelwelten auswuchsen. Es war tatsächlich befreiend.

Ich verliess diese Stadt und kehrte über 10 Jahre lang im Zwei-Wochenrythmus für ein langes Wochenende zurück. Jedesmal wenn ich in den „CLEX“, den „Chemnitz-Leipzig-Express“, bestieg, begrüsste mich nicht nur der Schaffner sondern auch jener alte Dunst und ich hatte sofort wieder Betonkrümel im Schuh. Mit jedem Meter in Richtung Chemnitz wurde der Dunst dichter, und die Krümel schienen sich zu vermehren und zu verkleben. Der Geschmack dieses Dunstes blieben gleich, Geruch und Farbe änderten sich jedoch. War es einst ideologischer Druck, der in Lähmung und Anpassung führte, so waren es nunmehr ökonomische Zwänge, die die Regie übernahmen. Ein unbefristeter Job bedeutete bei 20% Arbeitslosigkeit, dass man alles tat um ihn zu erhalten. Alles. Die Angst vor seinem Verlust trieb das gleiche dumpfe und ohnmächtige Gefühl aus der Magengegend die Speiseröhre empor, wie jenes, das man als 10jähriger vor der Statsbürgerkundelehrerin hatte wenn man gestand, Westfernsehen gesehen und von West-Verwandten Ritter-Sport „Voll-Nuss“ zu Weihnachten erhalten zu haben. Das anschliessende passive Erdulden von Repressalien glich der Anpassung an alles, was der postsozialistische Arbeitgeber, mit meist sozialistisch sozialisierter Führung, erwartete. Diesen dunstigen Druck spüre ich bis heute. Ich kenne die Angst dahinter. Sie führt zu genau jener panischen Nervosität, jenem stockenden Atem und jenem aufgebäumten Niedrigstatus, in dem jene Spätvierzigerin in der Tagesschau so gefangen war.

Auf einer neuerlichen Tour von Brüssel nach Chemnitz sitze ich im 'Ludwig' am Kölner Dom, rühre in meinem Kaffee und warte auf meine Tochter. Sie studiert hier Biochemie und wir haben uns für einen ‚Boxenstop‘, wie wir es nennen, verabredet, bevor ich weiterfahre. Mir geht jene Spätvierzigerin nicht aus dem Sinn. Dieser stockende Atem, diese Nervosität war ein flächendeckendes Phänomen. Ich kenne es von vielen Momenten, in denen sich Menschen aus meinem alten Chemnitzer Umfeld plötzlich verteidigen mussten, Konflikte aufbrachen und man in einer Konfrontation stand. Ich sah und lernte es zuerst bei meiner Mutter. Das Kriegstrauma eindringender russischer Soldaten hatte sie sich in jedem Konflikt aus instinktivem Selbstschutz unterwerfen lassen und mir die gleiche Angst vor physischer Bedrohung und Zerstörung unbewusst mit der Muttermilch verabreicht. Susanne kommt und wir albern zwei ganze Stunden herum, es geht uns gut. Als wir zahlen stellt sich heraus, dass der Ober ihr Buttermilcheis zweimal abgerechnet hat. Es kostet sie sichtbar Überwindung, die Verhandlung zu führen und zu gewinnen. Erschrocken merke ich, dass sich auch mein Atem und auch meine Körperhaltung verändert haben. Scheisse. Ein stechender Schmerz breitet sich in meinem Kopf aus als wir zum Bahnhof gehen und sie mich in den Zug nach Chemnitz verabschiedet. Dieser Dunst ist älter als mir scheint, er dünkt in mir und augenscheinlich in meiner Tochter fortzuleben. Anscheinend hat er mit der intergenerativen Wirkung von Kriegstraumata zu tun, die wohl vom ersten in den zweiten Weltkrieg und ohne Demokratieerholung in die nächste Diktatur hinübergetragen und verstärkt wurden. Auch ich, auch meine Generation hat sie weitergegeben, ich erkenne das jetzt; nun, da es zu spät ist. Passivität und emotionale Isolation sind die üblichen Folgen verschleppter Traumata, die ihre ungeheure Energie erst dann freisetzen, wenn die Isolation nachgibt.

Unter sozialistischer Diktatur hat Chemnitz kein postnazionalsozialistisches und postspiessbürgerliches 1968 erlebt, kein heilendes Aufbrechen dieser Isolation, in der die Kinder ihre Väter und Mütter zu Auskunft und Rechenschaft über ihre Mittäterschaft im Krieg zwangen; von einer Rechenschaft danach, über die Mitläuferschaft im Sozialismus ganz zu schweigen. Chemnitz und der Osten haben statt dessen ein neuerliches Trauma repressiver Diktatur erlebt, eine neuerliche Schicht von Isolation und Anpassung. Die Säuberung des Staatsapparates danach war eine formal verordnete, keine, die von den Kindern selbst betrieben wurde. Es war ja nicht so schlimm. Und so blieben die Traumata bis heute.

Streng genommen heisst das aber auch, dass die 89’er sogenannte friedliche Revolution keine bürgerrechtliche und demokratisch grundierte Bewegung war. Die Bürgerrechtsbewegung war und blieb eine Randerscheinung, die etwas in Gang brachte, was innerhalb kürzester Zeit von etwas nicht nur Bürgerlichem sondern Nationalistischem übernommen wurde. Wenn heute in Chemnitz und Dresden auf entsprechenden Demos “Wir sind das Volk!” gebrüllt wird, so ist dies nicht etwa eine demokratiefeindliche Verzerrung des 89’er Markenkerns bürgerlich-emergenter Demokratie. Es ist das unmaskierte Original. Der heutige Gebrauch entmystifiziert den alten Schlachtruf als das, was es damals schon war: als durch und durch nationalistisch getränkt. Man hatte damals nur keine Bezeichnung dafür, weil eine andere Unterscheidung, jene von Ost und West, wirklichkeitsmächtiger war. Der heutige Ruf liefert ein ungeschminkteres Bild des damaligen Volksverständnisses, als es die basisdemokratische Verklärung der 89’er Bewegung zuliess. Damals demonstrierte keine breite Masse von Demokraten, von jenem harten kleinen Kern der Bürgerrechtler abgesehen. Damals sprang der gleiche Mob auf wie heute. Der gleiche Mob der heute vor dem Nischel steht, stand schon wegen 15 D-Mark in Hof vor dem Einwohnermeldeamt, und zuvor in den Montagsdemos nachdem klar war, dass das alte DDR-System ausgediehnt hatte. Die Demokratie ist nicht verschwunden, sie war im Osten nie da; nicht nach 1989, nicht nach 1945, streng genommen seit 1848 nicht. Das heisst, es kommt noch schlimmer.

In Leipzig muss ich auf meinem Weg nach Chemnitz umzusteigen. Ich zögere vor einer neuerlichen Begegnung mit dem Dunst und beschliesse einen Zug später zu nehmen. Ich laufe durch die nachmittäglich sonnige Innenstadt und gönne mir “Mutti‘s Makkaroni”, inklusive Idiotenapostroph. Auf dem blauen Bildschirm verkündet ein ranghoher Landespolitiker aus Dresden dass es “… in Chemnitz keinen Mob, keine Hetzjagd und kein Progrom gegeben …” habe. Nein, es war die bürgerliche Mitte, die da demonstrierte und Migranten wie Journalisten jagte, da muss man ehrlich sein. Diese Mitte ist jedoch von einem bislang unerkannten, sehr alten national-bürgerlich-akademischen Netzwerk mit Schwerpunkt in Dresden beeinflusst, dass den Zerfall zweier Diktaturen überlebt hat und seit der beginnenden Erosion einer weiteren Demokratie nach Weimar sich nun neuerlich rüstet. Pegida ist kein neues geschichtsloses Phänomen, es ist das Wiederauftauchen eines soliden Bewegung, die schon einst am Vorabend der Machtergreifung die allerersten Bücherverbrennungen und Progrome vorbereitete. Jene Mitte, die heute demonstriert ist vermutlich die gleiche, die einst in den Kristallnächten johlte, applaudierte und spuckte. Sie ist getrieben von der Sehnsucht nach Erlösung von einem fast hundertjährigen, generativ vererbten Trauma, das vermutlich bis zum „Dolchstoss“ zurückreicht, von der Sehnsucht endlich wieder aufrecht Laufen zu können, die jahrzehntelange eigene Erniedrigung und passive Duldung endlich abschütteln und der Agression freien Lauf lassen zu können. Man kann die 89’er Bewegung nur zu leicht in der Verlängerung der national-bürgerlichen Bewegungen um die damaligen Progrome und Bücherverbrennungen lesen. Jetzt steht die gleiche ‚bürgerliche Mitte‘ in dem gleichen alten Dunst wie 1989, in dem gleichen Gefühl wie 1989 und 1932 - dass hier ein System am Ende ist. Diesmal braucht sie keine Bürgerrechtler wie 1989 und keine Kommunisten wie 1932, diesmal ist man selbstbewusster. Man hat ja Migranten und, vielleicht wichtiger noch, ein vergleichbar unzufriedenes und betrogenes Lebensgefühl. Die demokratischen Institutionen mögen stärker sein als in Weimar, ihre Durchsetzung jedoch, ober besser, ihre Verteidigung, ist schwächer als je zuvor.

Mein Blick fällt auf Wolfgang Mattheuers “Jahrhundertschritt”, als ich am Zeitgeschichtlichen Forum auf dem Weg zum Bahnhof vorbei laufe. Voila, denke ich mir. Wir sind in der alten Bewegung, im alten Schritt. Diesmal halt anders herum. Ich steige ich in den Zug und spüre, wie der alte Kopfschmerz wieder hochkriecht. Ich bleibe einen Moment stehen und spüre wie er von mir wieder Besitz ergreift, sich vom Nacken kommend ausdehnt. Ich drehe auf dem Absatz um, steige hastig aus und sehe dem davonfahrenden Zug mit stockendem Atem und mehrfach trocken schluckend lange nach. Ich gehe da nicht wieder hinein. Ich war viel zu lange drinn.


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